Meine Kindheit im Naturfreundehaus

Meine Kindheit am und im Naturfreundehaus

Das war eine andere Welt dort draußen am kalten Brunnen. Wie anders es war, ist mir eigentlich erst Jahrzehnte später richtig bewusst geworden, als ich anfing in meinen Erinnerungen zu kramen, um meinen Kindern und Enkeln davon zu erzählen, wie das damals bei uns war und wie wir dieses Stück Geschichte erlebt haben. Da war bestimmend der politische Rahmen in dem sich alles abspielte, der nicht zu sehen und für das Kind auch kaum zu spüren war, der aber doch das Leben beeinflusste. Immer wieder werde ich in meinen Geschichtchen dieses Haus und seine Menschen erwähnen, denn ich habe über viele Stationen meines Lebens zu berichten. Die Naturfreunde waren immer dabei und wenn ich mit 76 Jahren aus dem aktiven und wegbestimmenden Engagement mich zurückziehe, dann deshalb, weil ich glaube, dass das nun in guten Händen ist und weiterlebt.
Ich habe einiges über die Geschichte der Naturfreunde und der Ortsgruppe Würzburg zu verschiedenen Gelegenheiten verfasst. Das kann man dort nachlesen. Hier auf diesen Blättern will ich einige Episoden schildern, Blitzlichter einer schönen Zeit unter dunklen Wolken.
Wir hatten und wir brauchten kein Spielzeug, wie man es jetzt gewohnt ist. Allenfalls den obligaten Gummiring, den man sich gegenseitig zuwarf und mit der schlanken Hand auffing oder einen Ball. Das war auf die Dauer sowieso langweilig und daheim in Würzburg hatten wir das ja auch.   Ein Taschenmesser, eine Rolle Schnur und Draht, Kitt, Pech und das Werkzeugtäschchen am Fahrrad, mehr brauchten wir nicht, um unsere kleine Welt zu bereichern und Ideen zu verwirklichen. Flitzbogen und Speere aus Haselnussstecken, Papierschwalben, die Tiere des Waldes : Hasen, Dachse, Schnecken, Hirschkäfer, Blindschleichen, Käfer und Würmer – ein Erlebnis folgte dem andern. Stets zog es uns weg von der Welt der Erwachsenen. Wir brauchten sie wohl, sie waren aber auch sehr hinderlich, denn – inzwischen kenne ich ja die andere Seite: unsere Betriebsam- keit und Lautstärke, unsere Unbekümmertheit und Risikofreudigkeit konnten auf die Nerven gehen. Die ganze Gegend in einem Radius von mehreren Kilometern kannten wir wie unsere Hosentasche. Fuchs- und Dachsbauten, die unzähligen Kletterbäume und Aussichtskanzeln zwischen Schenkenschloss und Ravensburg, zwischen „Gebranntes Hölzle" und „Thüngersheimer Platte", die Schleichwege durchs Unterholz und die markierten Wanderwege, das alles war unser. Direkt am Haus, wo heute die Gerätehalle steht, gab es eine Gartenlaube, für flüchtige Spielchen oder Unterhaltung geeignet, aber leicht einzusehen. Das Schlupfloch unter der Veranda oder hinterm Haus die Holzlege eigneten sich als Versteck oder für stille Beobachtungen. Im Lauf der Zeit haben wir viele „Höhlen" gebaut, manche als einfachen Unterschlupf, andere mit größerem Aufwand. An unsere Burg in der Grombühlstraße kam natürlich keine heran. An einer Höhle in der Nähe der Hütte bauten wir das ganze Frühjahr. An dem Grundstück waren eine Menge Haselnusssträucher entfernt, eine Lichtung eingezäunt worden. Zu dem in großer Menge herumliegenden Baumaterial bekamen wir von Werners Vater eine Rolle Draht. Das Werk konnte beginnen. Zwischen zwei günstig stehenden Bäumen und zwei fest verkeilt eingegrabenen Pfosten wurden stabile Stecken als Querträger gebunden. In den Boden wurden senkrechte Stöcke eingerammt und aus Reisig Faschinen geflochten. Auch das Dach wurde so hergerichtet. Die Zwischenräume wurden mit Laub verstopft und zum Schluss mit Lehmbrei verschmiert. Eine alte Zeltplane schützte vor Witterungseinflüssen, mehr proforma. Der Bau hatte sehr viel Spaß gemacht. Was macht man dann in seinem neuen Refugium ? War es draußen schön, dann ist es doch blöd, sich da rein zu hocken. Und regnete es, gingen wir lieber in die Gartenlaube. Schließlich wurde diese unser Atelier. Im Spätsommer kamen wir auf die Idee, uns der Kunst zu öffnen. Natürlich aktiv und mit dem Ziel, unsere Kunst auch zu vermarkten. Ein Puppentheater wurde gegründet, die Laube als Bühne umgestaltet. Von den Feldern holten wir „Rangersche" in verschiedenen Größen und schnitzten nun in unserem Atelier eine große Zahl von Charakterköpfen. Für die Accessoires und die Bekleidung unserer Kunstwerke mussten die Truhen und Flickkörbe der Mütter herhalten. Endlich war es soweit, dass wir zu unseren Theatervorführungen einladen konnten. Von wegen Proben vorher. Das ging alles aus dem Stegreif, nur eine kurze Absprache über was und wie. Da wurde manches Stück ziemlich lang, weil wir kein Happy end fanden. Der Erfolg gab uns recht. Unsere Zuschauer, die natürlich Eintritt bezahlen mussten, wieherten gelegentlich vor Vergnügen und wir wussten nicht mal warum. Und dann bekamen hinterher noch extra was in die Kasse. So erzielte unsere erste Vorstellung eine Mark und fünf Pfennige, für uns Kinder ein unglaublicher Erfolg. Nun wollten wir an diesen phänomenalen Einstieg anknüpfen und dachten uns wirklich neue, unglaubliche Geschichten aus. Die Begeisterung der Erwachsenen ließ jedoch schon bald nach und das lag nicht nur daran, dass unsere Rübenköpfe von Woche zu Woche mehr schrumpften, auch unsere Drehbücher verloren an Prägnanz. Es kann aber auch sein, dass wir die Geldbeutel unserer Kunden – und da waren ja auch unsere Eltern dabei – zu sehr beutelten. Wie schwer war es doch gelegentlich, fünf oder gar zehn Pfennige für einen „Trick" zu ergattern, das Schokoladetäfelchen für kleine Naschmäuler.
Ein ganz besonderer Erdenfleck war der „Kalte Brunnen" und der Hügel unter dem die Brunnenstube lag. Diese war etwa 1 m tief, war aufgemauert über 1 m über Erdgleiche und mit einer eisernen Tür verschlossen. Bis in die 60er Jahre des 20 Jh. haben Bauern aus Gadheim noch ihr Trinkwas- ser aus dem Brunnen geholt, der munter sprudelte und das überschüssige Wasser als kleines Bächlein in Richtung Veitshöchheim durch das Sendelbachtal entließ. Wir haben unsern Durst direkt aus dem Bach gelöscht, wenn wir dort zugange waren und das war oft der Fall, denn was konnte man nicht alles mit Wasser anfangen. Da war die große Wiese, an deren Rand das Bächlein floss. Wir bauten Wasserräder, erzeugten mit einem Dynamo sogar ein schwaches Licht, bauten Kanäle und Hafenanlagen für unsere geschnitzten Boote. Und ärgerten damit die Frau Martin, die letzte Vertreterin einer einst reichen Bauerndynastie, die in der ziemlich verwahrlosten Einsamkeit der Villa Roth mit ihrer Schwester, mit ihren Doggen und zwei Pferden ihr Dasein fristete. Neben dem Geräteschuppen standen noch die Wahrzeichen der einstigen Größe, eine schwarze, hochherrschaftliche Kutsche mit allem drum und dran, mit dem sie früher vier- oder gar sechsspännig in die Stadt gefahren waren. Wir wollten sie natürlich nicht ärgern, klar, aber was kann man denn ausrichten gegen den Reiz, den Wasser nun mal ausübt. Und der Wastl und ihre Schafe hatten doch immer noch genug Gras auf der Weide am Brunnen. Auf dem Hügel darüber war ein kleines Plätzchen zwischen den Bäumen und Hecken, durch die wir uns Gänge geschnitten haben. Mitten darauf stand eine noch relativ junge Eiche, die uns als Aussichtsturm und als Marterpfahl diente, je nachdem, was gerade angesagt war. Da kam immer wieder mal ein „Neuer" oder eine „Neue" dazu und wie das so ist, diese wurden in der Regel nicht so ohne weiteres aufgenommen, auch wenn sie mit einem von uns bekannt oder verwandt waren. Der Marterpfahl war eines der Instrumente, mit denen die Standfestigkeit und Würdigkeit geprüft wurde, die Voraussetzung zu erfüllen um der Ehre teilhaftig zu werden, bei uns mittun zu dürfen. Die Behandlung mit Brennnesseln zum Beispiel war nicht jedermanns Sache und führte hin und wieder zum Einspruch von Erwachsenen, hat aber dem Probanten nie etwas genützt.
Gegenüber des Brunnens lag am Waldrand eine steile von Bäumen gekrönte Böschung, die eine freie unbewachsene Flanke bot, eine feste Sand- böschung, die wunderbar zu modellieren war und im Lauf der Zeit Burgen und Schlösser, Rennbahnen und Wasserfälle, Seilbahnen und Bergwer- ke, Tunnels und Brücken schmückte. Nur wenige Meter daneben stand eine so windschief gewachsene Eiche, auf die wir bequem ohne uns festzuhalten auf die unteren Äste laufen konnten, die weit ausluden und von denen wir Beine und Seele baumeln lassen konnten, wo wir uns unterhielten oder berieten, was wir als nächstes beginnen wollten. Da konnte man leicht zu zehnt Platz finden, sich räkeln wie auf einem Liegestuhl. In den Baum ragte ein Telefonmast, an dem wir lauschten und der summte wie ein Mückenschwarm. Da konnte man sich Gespräche zusammen fantasieren, die man am Ende auch noch glaubte, gehört zu haben. Da mitzuhören wäre doch eine tolle Sache. Also einen dünnen Draht über die Leitungen geworfen und das Ende mit einer Spanschachtel verbunden, wie wir es daheim als Telefon von Haus zu Haus praktiziert haben, und gelauscht, ob aus dem Summen wirklich menschliche Laute zu entziffern waren. Wir wurden uns aber nie einig. Der Wunsch war hier der Diktator des Gedankens. Da war auch der Waldweg, der entlang einer schmalen Schlucht zum östlichen Waldrand führte. Einige Fuchsbauten waren da und wenn wir uns still verhielten, konnten wir die jungen Füchse vor ihrem Bau beobachten. Einmal, es war gerade Fasching und wir Kinder belebten maskiert das Gelände um das Naturfreundehaus, da kam der Pächter der Jagd und bat um Hilfe. Sein „Waldi" war in einen, wie sich später herausstellte verlassenen und von einem Dachs in Besitz genommenen, Fuchsbau eingedrungen und nicht mehr zum Vorschein gekommen. Aus dem Faschingstreiben wurde nun ein Arbeitsdienst. Gemeinsam sind wir der Sache mit Schaufel und Pickel auf den Grund gegangen und nach Stunden konnte der Jäger seinen übel zugerichteten Hund davontragen. Der Herr seines Anwesens hatte den Eindringling in einer blinden Röhre gestellt und ihm den Rückzug abgeschnitten.
Am Hang in dieser Schlucht wuchsen bis in die 70er Jahre in jedem Herbst noch die Herbst- oder Totentrompeten, eine vorzügliche Pilzart zum verfeinern von Gerichten und Soßen. Auf den Tischen im Garten haben wir sie getrocknet und in Gläsern aufbewahrt. Der saure Regen hat die feinen und äußerst empfindlichen Myzel des Pilzes zerstört. Ob es diesen wunderbaren Würzpilz überhaupt noch irgendwo gibt ?
Am Waldrand in Richtung Gadheim stand auf dem weiten Hügel linkerhand eine Gruppe von Kiefern, sehr hohe und prächtige Exemplare, die zu erklettern immer unser Ziel war. Aber nur einer hat das in Vollendung geschafft, der Amthor’s Helmut. Er war absolut schwindelfrei, kletterte wie ein Affe auf der groben Kiefernrinde bis in den Wipfel und brachte den in Schwingung, um dann im kühnen Sprung hinüber ins Geäst eines etwas kleineren Baumes zu springen. Er balancierte auch auf dem Geländer der Brücke über die Bahnlinie am Bahnhof in Veitshöchheim. Das hätte ich auch gern gekonnt, aber das war mir einfach zu riskant. Auch als ich viele Jahre später mich dem Klettern in Fels und Kamin zuwandte, ging mir Sicherheit über alles. Als ich bemerkte, dass der Bergkamerad, mit dem ich auf der Nordkette über Innsbruck unterwegs war, die Sicherung, auf die ich blind vertraute außer acht ließ, habe ich diesen schönen Sport an den Nagel gehängt.
Am Weg nach Gadheim war eine Gruppe von wilden Zwetschgenbäumen, deren Früchte zu ernten immer Vergnügen bereitete. Nur selten hingen aber so viele Früchte an den stacheligen Gewächsen – noch nicht Baum und mehr ein Strauch -, dass wir in dem großen ca. 30 Liter fassenden Topf, den wir als Wasserbehälter nutzten, Zwetschgenbrei für alle kochen konnten. Das war dann ein süßes Fest für alle und für uns Kinder ganz besonders.
Auf den Äckern ringsum waren selten edlere Früchte angebaut, meistens nutzte man sie als Wiesen und Kleeäcker, seltener „Rangeres" oder Zuckerrüben  Das war für uns von großem Vorteil, denn wir brauchten bei unseren Streifzügen und Spielen nicht acht zu geben um nichts zu zertrampeln.. Das änderte sich, wenn das Heu auf den Böcken stand. Das war unsere Zeit und also auch stets beladen mit Problemen mit den Bauern, denen es überhaupt nicht gefiel, wenn wir die Heuböcke als Berge, die zu erklettern, als Burgen, die zu verteidigen, als Unterstände, wenn es regnete oder als Versteck bei „Räuber und Schander" nutzten. Nun müssten Naturfreunde und Bauern eigentlich am gleichen Strang ziehen, aber schon damals zeigte sich, dass es in der Betrachtung von Natur und ihrem Nutzen, zwischen Naturschutz und Naturnutz gravierende Unterschiede gibt, die auch heutzutage noch nicht ausgeräumt sind. Indessen gibt es auch bei den Agrariern schon einige, die das wie die Naturschutzverbände sehen. Die Diskussion in den letzten Jahren um die Feldhamster zeigt, wie weit wir noch von einem vernünftigen Umgang mit der Natur weg sind und wie diese Belange bei führenden Stadtratsmitgliedern von CSU und SPD mit Unkenntnis und schalen Witzen begleitet werden.
In den 30ern wurde das Gelände zwischen Schenkenschloss und „Gebranntes Hölzle" zum Übungsplatz für die Würzburger Garnisonen umgewidmet, der Schleehof geräumt und die Familie Weidner vor Gadheim angesiedelt. Ein weiteres großes Spielfeld tat sich auf. Da war zuerst der Neubau des Hofes, den wir erkunden, in ihm herumstreifen, auf den Mauern und im Gebälk herumklettern konnten. Da war die Auseinandersetzung mit den Weidners Buben und die erste Bekanntschaft mit ihnen. Viel mehr war aber auf dem neuen Truppenübungsplatz los, der am Wochenende vom Barras nicht genutzt wurde, also uns voll und ganz zur Verfügung stand. Denn damals war das nicht eingezäunt, standen nirgends Tafeln, auf denen die Bürger gar mit Erschießen bedroht wurden, wie man heute lesen kann. Wir spielten in den Schützengräben und Unterständen, fanden Patronenhülsen, Hand- und Werfergranaten zu Übungszwecken und schleppten alles in unseren damals benutzten Unterschlupf. Diese Dinge waren dann in Würzburg auf der Straße und in der Schule wertvolle Tauschobjekte.
So wie das Schleehofgelände das Militär der Gegenwart repräsentierte, so war die Ravensburg wie das Schenkenschloss die Brücke zur Vergangenheit. Der Trümmerhaufen um den Turmrest der Ravensburg hatte es mir besondern angetan, weil da an mehreren Stellen Klüfte und Hohlräume zu finden waren und den Forscherdrang weckten. Oft bin ich mit Werner dort unten herum gekrochen. Wir haben gegraben und jede Fuge mit der Taschenlampe ausgeleuchtet, der große Fund blieb uns versagt. Einen einzigen Gegenstand haben wir gefunden, den wir als Waffe glaubten identifizieren zu können, haben das schwere Stück bis zur Hütte geschleppt und dort versteckt. Und vergessen. Ob das was war?: Eine etwa 2 m langes mit dünnem Draht umwickeltes Eisenrohr mit vierkantiger Spitze. Als wir das aus den Trümmern zogen, fühlte ich mich wie Kolumbus oder Schliemann. Das Gewicht, es mögen an ihre 10 Kilo oder gar mehr gewesen sein, ließ mich am großen Wurf „stranneln". Heute weiß ich, dass und wie ich das hätte überprüfen lassen können. Ein Vogelnest, ein Schmetterling oder eine Haselmaus haben so was schnell vergessen lassen.

Der Weg rund um den Edelmannswald war ein Paradies in vieler Hinsicht und wir haben das ausdauernd und ausgiebig genutzt. Da waren die vielen Tiere zu beobachten, Spuren zu lesen, Losung zu bestimmen, Wildwechsel zu verfolgen. Ältere Freunde und Eltern haben uns dabei unterwiesen und belehrt - über die Natur und wie man mit ihr umgeht, welche Blumen wir für ein Sträußchen für die Mama binden durften und wie man die Standorte seltener Orchideen schützt und tarnt. Da war die wunderschöne Aussicht vom „Dorleweg" durch die Kiefern am Waldrand hinunter auf Margetshöchheim und Erlabrunn, auf den in der Sonne schimmernden Main oder von der „Schönen Aussicht" bis hinunter nach Karlstadt mit den rauchenden Kaminen und der zementüberstäubten Landschaft. Wir sammelten die Früchte des Waldes, die Himbeeren und Erdbeeren, die Pilze vom Mai bis in den späten Herbst in ihrer jetzt schon sagenhaften Vielfalt. Wir wussten, wo die Steinpilze standen und die Pfifferlinge, wo an lichten Stellen Champignons und Maronen zu finden waren, dass man sie schon aus großer Entfernung riechen, unter dem Laub aufspüren konnte, wie man Ochsenzunge und Parasol zubereitet. Wir kannten die Standorte von Speierling, Wildkirsche und Morelle, pflückten Hiefe und Schlehe, das erstere als „Juckpulver", das andere um die Geschmacksnerven zu strapazieren. Und rings um den Wald die Felder und Weinberge, die zu gegebener Zeit ihr Füllhorn darboten. Warum schmeckten die geklauten Kirschen, Erdbeeren und Weintrauben so viel besser als die gekauften? Ganz einfach: Hier konnte man zulangen bis der „Nabel strotzte" und niemand sagte: „Nun langt’s aber." Nach solchen Exkursionen verstanden wir es, alle Spuren an Händen und Gesicht zu beseitigen. Nur bei den Kirschen misslang das manchmal und da war eben wieder mal eine Strafpredigt und Erneuerung der Verbote fällig, was bedeutete, dass wir das nächste mal vorsichtiger zu Werke gehen mussten. Die Margetshöchheimer hatten große Erdbeerplantagen direkt am Main , die sie bewachten und die wir schwimmend heimsuchten. Da kam zum leiblichen Vergnügen auch noch der freche Triumph, wenn die hinter uns herrannten und wir mit elegantem „Köpfer" oder einem „Bauchplatscher" das Weite suchten. Im Pfarrgarten von Veitshöchheim warteten die besten Birnen weit und breit und auf der Obstplantage der Lehranstalt viele Apfelsorten auf unsern Besuch. Da wir unsere Einsätze weit streuten und sehr darauf achteten, dass wir keinen Schaden anrichteten und wir auf sandigem Boden mit einem Zweig sogar die Fußspuren verwischten, fiel unser Gastspiel kaum einmal auf.
Am Rand von Gadheim steht heute noch die große Scheune, die oft unser Ziel war. Sie war frei zugänglich und gehörte dem Bauer Gehrig. Je nachdem, wie viel Stroh darin gelagert war, sind unsere Spiele da drinnen abgelaufen. Wir bauten Höhlen, fanden Nester mit Eiern des freilaufenden Federviehs, kletterten bis hinauf ins Dachgebälk und versuchten uns in der Kühnheit des Sprunges hinab ins Heu zu übertreffen. Das Zentrum des Weilers – heute ist es ein kleiner Platz - zierte ein Dorfweiher, der an drei Seiten mit einem einfachen Geländer abgesichert war. Außer den Hinterlassenschaften der domestizierten Vogelwelt war auch noch ein wenig Wasser vorhanden. Da schwammen mal größere Bretter oder Balken drin herum. Ein besonders vorwitziger großsprecherischer Besucher bei einem unserer Freunde hat einige dieser Brocken zu einem Floß gefügt und stakte mit Hilfe einer Bohnenstange über das grünliche Meer. In der Mitte ereilte ihn das von uns ersehnte Malheur und er stand bis an den Bauch in der wohlriechenden Brühe, die schon bald unter der Oberfläche in immer dichteren Zustand überging. Mit einer langen Stange und der Mithilfe des Bauern Wahler zerrten wir den Burschen an Land. Schön sah er aus. Und in diesem Zustand musste er nun bis hinunter zum kalten Brunnen laufen. Der Dreck war in der Sonne zu einem Panzer getrocknet, der schon abbröckelte von der Haut, aber nicht von seiner Kleidung. Inzwischen Mitleid empfindend haben wir ihn gemeinsam am Brunnen wieder in einen menschenwürdigen Zustand versetzt.
Zu den Tieren des Waldes zählen auch „Viecher", die zu negativen Erfahrungen beitrugen. Da waren die Wespen, die das sommerliche Frühstück auf der Veranda wegen unserer Abwehr- und Ausweichbewegungen zum Frühsport werden ließ. Wo kamen die nur immer so schnell her?. Als ich viele Jahre später im Spitzboden des Hauses das dort seit Jahrzehnten lagernden Gerümpel wegräumte, wurde offenbar: Wie in einem von Hunderten weißer Lampions erfüllten Ballsaal glaubte man im Dachboden zu sein. Lauter Wespennester in allen Größen von Hühnerei bis Fußball hingen an den Ziegeln und ihre Insassen hatten nur 4, 5 Meter bis auf unser Geleebrot. Von meinem Onkel hatte ich zu Weihnachten einen weißen Lederfußball bekommen. Wir spielten hinter dem Haus. Er flog weit ins Gebüsch. Ich suchte ihn und glaubte ihn zwischen den Zweigen einer Schwarzdornhecke hängen zu sehen, doch merkte ich sofort, das ist kein Leder, sondern nur Papier, als ich es anfasste. Ein erster Stich schon machte mich aufmerksam, um was es sich wirklich handelte und dass weitere sogleich folgen werden. Es ging trotzdem noch gut, weil ich mich auf der Erde befand und davonrennen konnte und nur sechs Stiche an den Händen zu pflegen waren. Anders war es, als ich an unserem Kletterbaum die Spitze fast erreicht hatte und diesmal mit festem Griff ein im Stamm befindliches Wespennest verschloss. Mehrere Stiche auf kleinstem Raum machten alles klar: Hier hatten sich Wespen in einer Höhlenbrüterwohnung breit gemacht. Das höllische Gebrumm machte deutlich: Hier hilft nur eines:„nichts wie weg". Also Absprung. Mehr als fünf Meter durch das Geäst der Eiche hinein in Brennnesseln und Strauchwerk waren immer noch besser als von einem ganzen Wespenschwarm niedergemacht zu werden. Noch ärger hat es Marianne erwischt. Wir spielten „Verstecken". Sie erkor sich als Schlupfwinkel die Holzlege. Dort hatten sich Hornissen eine Heimstatt geschaffen. Mit dem Kopf hat sie dort angeklopft. Mehrere der „Neuntöter" haben ihre Kopfhaut beharkt. Es war ihr Glück, dass die Einstiche an Stellen war, wo das Gift nicht viel anrichten konnte, aber die Haare gingen ihr an dieser Stelle aus. Wir hatten große Angst um sie, waren wir doch noch der weit verbreiteten Meinung, dass der „Neuntöter" wirklich, wie man erzählte, so überaus gefährlich sei. Wir waren immerhin vom nächsten Arzt ein halbe Stunde des Weges entfernt und kein Telefon weit und breit. Da waren „Schnaken „ und „Bremsen" weniger gefährlich, doch unangenehm waren sie auch. Einmal wurde ich von „Bremsen" regelrecht gejagt. Mit dem Fahrrad fuhr ich auf der Landstraße von Gadheim in der warmen Abendsonne in Richtung Oberdürrbach, da fiel mich der Schwarm an. Ich trat in die Pedale was das Zeug hielt. Werner, der nachfolgte sagte hinterher, es habe ausgesehen, als hätte ich einen Schleier hinter mir hergezogen. Eine Kurve ging ich zu schnell und eng an und ich stürzte in den Straßengraben. Die Macke am Knie war halb so schlimm aber diese erbärmlich juckenden Quaddeln an Kopf und Nacken, da war ein Wespenstich dagegen ein Vergnügen. Als ich im letzten Jahr von einer Wespe oder Biene erwischt wurde, war das allerdings wesentlich schlimmer. Entweder haben die Viecher neue Kampfmittel entwickelt oder sich infiziert. Jetzt schau ich, dass ich ihnen aus dem Weg gehe.