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Meine Kindheit

Meine Kindheit am und im Naturfreundehaus

Das war eine andere Welt dort draußen am kalten Brunnen. Wie anders es war, ist mir eigentlich erst Jahrzehnte später richtig bewusst geworden, als ich anfing in meinen Erinnerungen zu kramen, um meinen Kindern und Enkeln davon zu erzählen, wie das damals bei uns war und wie wir dieses Stück Geschichte erlebt haben. Da war bestimmend der politische Rahmen in dem sich alles abspielte, der nicht zu sehen und für das Kind auch kaum zu spüren war, der aber doch das Leben beeinflusste. Immer wieder werde ich in meinen Geschichtchen dieses Haus und seine Menschen erwähnen, denn ich habe über viele Stationen meines Lebens zu berichten. Die Naturfreunde waren immer dabei und wenn ich mit 76 Jahren aus dem aktiven und wegbestimmenden Engagement mich zurückziehe, dann deshalb, weil ich glaube, dass das nun in guten Händen ist und weiterlebt.
Ich habe einiges über die Geschichte der Naturfreunde und der Ortsgruppe Würzburg zu verschiedenen Gelegenheiten verfasst. Das kann man dort nachlesen. Hier auf diesen Blättern will ich einige Episoden schildern, Blitzlichter einer schönen Zeit unter dunklen Wolken.
Wir hatten und wir brauchten kein Spielzeug, wie man es jetzt gewohnt ist. Allenfalls den obligaten Gummiring, den man sich gegenseitig zuwarf und mit der schlanken Hand auffing oder einen Ball. Das war auf die Dauer sowieso langweilig und daheim in Würzburg hatten wir das ja auch.   Ein Taschenmesser, eine Rolle Schnur und Draht, Kitt, Pech und das Werkzeugtäschchen am Fahrrad, mehr brauchten wir nicht, um unsere kleine Welt zu bereichern und Ideen zu verwirklichen. Flitzbogen und Speere aus Haselnussstecken, Papierschwalben, die Tiere des Waldes : Hasen, Dachse, Schnecken, Hirschkäfer, Blindschleichen, Käfer und Würmer – ein Erlebnis folgte dem andern. Stets zog es uns weg von der Welt der Erwachsenen. Wir brauchten sie wohl, sie waren aber auch sehr hinderlich, denn – inzwischen kenne ich ja die andere Seite: unsere Betriebsam keit und Lautstärke, unsere Unbekümmertheit und Risikofreudigkeit konnten auf die Nerven gehen. Die ganze Gegend in einem Radius von mehreren Kilometern kannten wir wie unsere Hosentasche. Fuchs- und Dachsbauten, die unzähligen Kletterbäume und Aussichtskanzeln zwischen Schenkenschloss und Ravensburg, zwischen „Gebranntes Hölzle" und „Thüngersheimer Platte", die Schleichwege durchs Unterholz und die markierten Wanderwege, das alles war unser. Direkt am Haus, wo heute die Gerätehalle steht, gab es eine Gartenlaube, für flüchtige Spielchen oder Unterhaltung geeignet, aber leicht einzusehen. Das Schlupfloch unter der Veranda oder hinterm Haus die Holzlege eigneten sich als Versteck oder für stille Beobachtungen. Im Lauf der Zeit haben wir viele „Höhlen" gebaut, manche als einfachen Unterschlupf, andere mit größerem Aufwand. An unsere Burg in der Grombühlstraße kam natürlich keine heran. An einer Höhle in der Nähe der Hütte bauten wir das ganze Frühjahr. An dem Grundstück waren eine Menge Haselnusssträucher entfernt, eine Lichtung eingezäunt worden. Zu dem in großer Menge herumliegenden Baumaterial bekamen wir von Werners Vater eine Rolle Draht. Das Werk konnte beginnen. Zwischen zwei günstig stehenden Bäumen und zwei fest verkeilt eingegrabenen Pfosten wurden stabile Stecken als Querträger gebunden. In den Boden wurden senkrechte Stöcke eingerammt und aus Reisig Faschinen geflochten. Auch das Dach wurde so hergerichtet. Die Zwischenräume wurden mit Laub verstopft und zum Schluss mit Lehmbrei verschmiert. Eine alte Zeltplane schützte vor Witterungseinflüssen, mehr proforma. Der Bau hatte sehr viel Spaß gemacht. Was macht man dann in seinem neuen Refugium ? War es draußen schön, dann ist es doch blöd, sich da rein zu hocken. Und regnete es, gingen wir lieber in die Gartenlaube. Schließlich wurde diese unser Atelier. Im Spätsommer kamen wir auf die Idee, uns der Kunst zu öffnen. Natürlich aktiv und mit dem Ziel, unsere Kunst auch zu vermarkten. Ein Puppentheater wurde gegründet, die Laube als Bühne umgestaltet. Von den Feldern holten wir „Rangersche" in verschiedenen Größen und schnitzten nun in unserem Atelier eine große Zahl von Charakterköpfen. Für die Accessoires und die Bekleidung unserer Kunstwerke mussten die Truhen und Flickkörbe der Mütter herhalten. Endlich war es soweit, dass wir zu unseren Theatervorführungen einladen konnten. Von wegen Proben vorher. Das ging alles aus dem Stegreif, nur eine kurze Absprache über was und wie. Da wurde manches Stück ziemlich lang, weil wir kein Happy end fanden. Der Erfolg gab uns recht. Unsere Zuschauer, die natürlich Eintritt bezahlen mussten, wieherten gelegentlich vor Vergnügen und wir wussten nicht mal warum. Und dann bekamen hinterher noch extra was in die Kasse. So erzielte unsere erste Vorstellung eine Mark und fünf Pfennige, für uns Kinder ein unglaublicher Erfolg. Nun wollten wir an diesen phänomenalen Einstieg anknüpfen und dachten uns wirklich neue, unglaubliche Geschichten aus. Die Begeisterung der Erwachsenen ließ jedoch schon bald nach und das lag nicht nur daran, dass unsere Rübenköpfe von Woche zu Woche mehr schrumpften, auch unsere Drehbücher verloren an Prägnanz. Es kann aber auch sein, dass wir die Geldbeutel unserer Kunden – und da waren ja auch unsere Eltern dabei – zu sehr beutelten. Wie schwer war es doch gelegentlich, fünf oder gar zehn Pfennige für einen „Trick" zu ergattern, das Schokoladetäfelchen für kleine Naschmäuler.
Ein ganz besonderer Erdenfleck war der „Kalte Brunnen" und der Hügel unter dem die Brunnenstube lag. Diese war etwa 1 m tief, war aufgemauert über 1 m über Erdgleiche und mit einer eisernen Tür verschlossen. Bis in die 60er Jahre des 20 Jh. haben Bauern aus Gadheim noch ihr Trinkwas- ser aus dem Brunnen geholt, der munter sprudelte und das überschüssige Wasser als kleines Bächlein in Richtung Veitshöchheim durch das Sendelbachtal entließ. Wir haben unsern Durst direkt aus dem Bach gelöscht, wenn wir dort zugange waren und das war oft der Fall, denn was konnte man nicht alles mit Wasser anfangen. Da war die große Wiese, an deren Rand das Bächlein floss. Wir bauten Wasserräder, erzeugten mit einem Dynamo sogar ein schwaches Licht, bauten Kanäle und Hafenanlagen für unsere geschnitzten Boote. Und ärgerten damit die Frau Martin, die letzte Vertreterin einer einst reichen Bauerndynastie, die in der ziemlich verwahrlosten Einsamkeit der Villa Roth mit ihrer Schwester, mit ihren Doggen und zwei Pferden ihr Dasein fristete. Neben dem Geräteschuppen standen noch die Wahrzeichen der einstigen Größe, eine schwarze, hochherrschaftliche Kutsche mit allem drum und dran, mit dem sie früher vier- oder gar sechsspännig in die Stadt gefahren waren. Wir wollten sie natürlich nicht ärgern, klar, aber was kann man denn ausrichten gegen den Reiz, den Wasser nun mal ausübt. Und der Wastl und ihre Schafe hatten doch immer noch genug Gras auf der Weide am Brunnen. Auf dem Hügel darüber war ein kleines Plätzchen zwischen den Bäumen und Hecken, durch die wir uns Gänge geschnitten haben. Mitten darauf stand eine noch relativ junge Eiche, die uns als Aussichtsturm und als Marterpfahl diente, je nachdem, was gerade angesagt war. Da kam immer wieder mal ein „Neuer" oder eine „Neue" dazu und wie das so ist, diese wurden in der Regel nicht so ohne weiteres aufgenommen, auch wenn sie mit einem von uns bekannt oder verwandt waren. Der Marterpfahl war eines der Instrumente, mit denen die Standfestigkeit und Würdigkeit geprüft wurde, die Voraussetzung zu erfüllen um der Ehre teilhaftig zu werden, bei uns mittun zu dürfen. Die Behandlung mit Brennnesseln zum Beispiel war nicht jedermanns Sache und führte hin und wieder zum Einspruch von Erwachsenen, hat aber dem Probanten nie etwas genützt.
Gegenüber des Brunnens lag am Waldrand eine steile von Bäumen gekrönte Böschung, die eine freie unbewachsene Flanke bot, eine feste Sand- böschung, die wunderbar zu modellieren war und im Lauf der Zeit Burgen und Schlösser, Rennbahnen und Wasserfälle, Seilbahnen und Bergwer- ke, Tunnels und Brücken schmückte. Nur wenige Meter daneben stand eine so windschief gewachsene Eiche, auf die wir bequem ohne uns festzuhalten auf die unteren Äste laufen konnten, die weit ausluden und von denen wir Beine und Seele baumeln lassen konnten, wo wir uns unterhielten oder berieten, was wir als nächstes beginnen wollten. Da konnte man leicht zu zehnt Platz finden, sich räkeln wie auf einem Liegestuhl. In den Baum ragte ein Telefonmast, an dem wir lauschten und der summte wie ein Mückenschwarm. Da konnte man sich Gespräche zusammen fantasieren, die man am Ende auch noch glaubte, gehört zu haben. Da mitzuhören wäre doch eine tolle Sache. Also einen dünnen Draht über die Leitungen geworfen und das Ende mit einer Spanschachtel verbunden, wie wir es daheim als Telefon von Haus zu Haus praktiziert haben, und gelauscht, ob aus dem Summen wirklich menschliche Laute zu entziffern waren. Wir wurden uns aber nie einig. Der Wunsch war hier der Diktator des Gedankens. Da war auch der Waldweg, der entlang einer schmalen Schlucht zum östlichen Waldrand führte. Einige Fuchsbauten waren da und wenn wir uns still verhielten, konnten wir die jungen Füchse vor ihrem Bau beobachten. Einmal, es war gerade Fasching und wir Kinder belebten maskiert das Gelände um das Naturfreundehaus, da kam der Pächter der Jagd und bat um Hilfe. Sein „Waldi" war in einen, wie sich später herausstellte verlassenen und von einem Dachs in Besitz genommenen, Fuchsbau eingedrungen und nicht mehr zum Vorschein gekommen. Aus dem Faschingstreiben wurde nun ein Arbeitsdienst. Gemeinsam sind wir der Sache mit Schaufel und Pickel auf den Grund gegangen und nach Stunden konnte der Jäger seinen übel zugerichteten Hund davontragen. Der Herr seines Anwesens hatte den Eindringling in einer blinden Röhre gestellt und ihm den Rückzug abgeschnitten.
Am Hang in dieser Schlucht wuchsen bis in die 70er Jahre in jedem Herbst noch die Herbst- oder Totentrompeten, eine vorzügliche Pilzart zum verfeinern von Gerichten und Soßen. Auf den Tischen im Garten haben wir sie getrocknet und in Gläsern aufbewahrt. Der saure Regen hat die feinen und äußerst empfindlichen Myzel des Pilzes zerstört. Ob es diesen wunderbaren Würzpilz überhaupt noch irgendwo gibt ?
Am Waldrand in Richtung Gadheim stand auf dem weiten Hügel linkerhand eine Gruppe von Kiefern, sehr hohe und prächtige Exemplare, die zu erklettern immer unser Ziel war. Aber nur einer hat das in Vollendung geschafft, der Amthor’s Helmut. Er war absolut schwindelfrei, kletterte wie ein Affe auf der groben Kiefernrinde bis in den Wipfel und brachte den in Schwingung, um dann im kühnen Sprung hinüber ins Geäst eines etwas kleineren Baumes zu springen. Er balancierte auch auf dem Geländer der Brücke über die Bahnlinie am Bahnhof in Veitshöchheim. Das hätte ich auch gern gekonnt, aber das war mir einfach zu riskant. Auch als ich viele Jahre später mich dem Klettern in Fels und Kamin zuwandte, ging mir Sicherheit über alles. Als ich bemerkte, dass der Bergkamerad, mit dem ich auf der Nordkette über Innsbruck unterwegs war, die Sicherung, auf die ich blind vertraute außer acht ließ, habe ich diesen schönen Sport an den Nagel gehängt.
Am Weg nach Gadheim war eine Gruppe von wilden Zwetschgenbäumen, deren Früchte zu ernten immer Vergnügen bereitete. Nur selten hingen aber so viele Früchte an den stacheligen Gewächsen – noch nicht Baum und mehr ein Strauch -, dass wir in dem großen ca. 30 Liter fassenden Topf, den wir als Wasserbehälter nutzten, Zwetschgenbrei für alle kochen konnten. Das war dann ein süßes Fest für alle und für uns Kinder ganz besonders.
Auf den Äckern ringsum waren selten edlere Früchte angebaut, meistens nutzte man sie als Wiesen und Kleeäcker, seltener „Rangeres" oder Zuckerrüben  Das war für uns von großem Vorteil, denn wir brauchten bei unseren Streifzügen und Spielen nicht acht zu geben um nichts zu zertrampeln.. Das änderte sich, wenn das Heu auf den Böcken stand. Das war unsere Zeit und also auch stets beladen mit Problemen mit den Bauern, denen es überhaupt nicht gefiel, wenn wir die Heuböcke als Berge, die zu erklettern, als Burgen, die zu verteidigen, als Unterstände, wenn es regnete oder als Versteck bei „Räuber und Schander" nutzten. Nun müssten Naturfreunde und Bauern eigentlich am gleichen Strang ziehen, aber schon damals zeigte sich, dass es in der Betrachtung von Natur und ihrem Nutzen, zwischen Naturschutz und Naturnutz gravierende Unterschiede gibt, die auch heutzutage noch nicht ausgeräumt sind. Indessen gibt es auch bei den Agrariern schon einige, die das wie die Naturschutzverbände sehen. Die Diskussion in den letzten Jahren um die Feldhamster zeigt, wie weit wir noch von einem vernünftigen Umgang mit der Natur weg sind und wie diese Belange bei führenden Stadtratsmitgliedern von CSU und SPD mit Unkenntnis und schalen Witzen begleitet werden.
In den 30ern wurde das Gelände zwischen Schenkenschloss und „Gebranntes Hölzle" zum Übungsplatz für die Würzburger Garnisonen umgewidmet, der Schleehof geräumt und die Familie Weidner vor Gadheim angesiedelt. Ein weiteres großes Spielfeld tat sich auf. Da war zuerst der Neubau des Hofes, den wir erkunden, in ihm herumstreifen, auf den Mauern und im Gebälk herumklettern konnten. Da war die Auseinandersetzung mit den Weidners Buben und die erste Bekanntschaft mit ihnen. Viel mehr war aber auf dem neuen Truppenübungsplatz los, der am Wochenende vom Barras nicht genutzt wurde, also uns voll und ganz zur Verfügung stand. Denn damals war das nicht eingezäunt, standen nirgends Tafeln, auf denen die Bürger gar mit Erschießen bedroht wurden, wie man heute lesen kann. Wir spielten in den Schützengräben und Unterständen, fanden Patronenhülsen, Hand- und Werfergranaten zu Übungszwecken und schleppten alles in unseren damals benutzten Unterschlupf. Diese Dinge waren dann in Würzburg auf der Straße und in der Schule wertvolle Tauschobjekte.
So wie das Schleehofgelände das Militär der Gegenwart repräsentierte, so war die Ravensburg wie das Schenkenschloss die Brücke zur Vergangenheit. Der Trümmerhaufen um den Turmrest der Ravensburg hatte es mir besondern angetan, weil da an mehreren Stellen Klüfte und Hohlräume zu finden waren und den Forscherdrang weckten. Oft bin ich mit Werner dort unten herum gekrochen. Wir haben gegraben und jede Fuge mit der Taschenlampe ausgeleuchtet, der große Fund blieb uns versagt. Einen einzigen Gegenstand haben wir gefunden, den wir als Waffe glaubten identifizieren zu können, haben das schwere Stück bis zur Hütte geschleppt und dort versteckt. Und vergessen. Ob das was war?: Eine etwa 2 m langes mit dünnem Draht umwickeltes Eisenrohr mit vierkantiger Spitze. Als wir das aus den Trümmern zogen, fühlte ich mich wie Kolumbus oder Schliemann. Das Gewicht, es mögen an ihre 10 Kilo oder gar mehr gewesen sein, ließ mich am großen Wurf „stranneln". Heute weiß ich, dass und wie ich das hätte überprüfen lassen können. Ein Vogelnest, ein Schmetterling oder eine Haselmaus haben so was schnell vergessen lassen.

Der Weg rund um den Edelmannswald war ein Paradies in vieler Hinsicht und wir haben das ausdauernd und ausgiebig genutzt. Da waren die vielen Tiere zu beobachten, Spuren zu lesen, Losung zu bestimmen, Wildwechsel zu verfolgen. Ältere Freunde und Eltern haben uns dabei unterwiesen und belehrt - über die Natur und wie man mit ihr umgeht, welche Blumen wir für ein Sträußchen für die Mama binden durften und wie man die Standorte seltener Orchideen schützt und tarnt. Da war die wunderschöne Aussicht vom „Dorleweg" durch die Kiefern am Waldrand hinunter auf Margetshöchheim und Erlabrunn, auf den in der Sonne schimmernden Main oder von der „Schönen Aussicht" bis hinunter nach Karlstadt mit den rauchenden Kaminen und der zementüberstäubten Landschaft. Wir sammelten die Früchte des Waldes, die Himbeeren und Erdbeeren, die Pilze vom Mai bis in den späten Herbst in ihrer jetzt schon sagenhaften Vielfalt. Wir wussten, wo die Steinpilze standen und die Pfifferlinge, wo an lichten Stellen Champignons und Maronen zu finden waren, dass man sie schon aus großer Entfernung riechen, unter dem Laub aufspüren konnte, wie man Ochsenzunge und Parasol zubereitet. Wir kannten die Standorte von Speierling, Wildkirsche und Morelle, pflückten Hiefe und Schlehe, das erstere als „Juckpulver", das andere um die Geschmacksnerven zu strapazieren. Und rings um den Wald die Felder und Weinberge, die zu gegebener Zeit ihr Füllhorn darboten. Warum schmeckten die geklauten Kirschen, Erdbeeren und Weintrauben so viel besser als die gekauften? Ganz einfach: Hier konnte man zulangen bis der „Nabel strotzte" und niemand sagte: „Nun langt’s aber." Nach solchen Exkursionen verstanden wir es, alle Spuren an Händen und Gesicht zu beseitigen. Nur bei den Kirschen misslang das manchmal und da war eben wieder mal eine Strafpredigt und Erneuerung der Verbote fällig, was bedeutete, dass wir das nächste mal vorsichtiger zu Werke gehen mussten. Die Margetshöchheimer hatten große Erdbeerplantagen direkt am Main , die sie bewachten und die wir schwimmend heimsuchten. Da kam zum leiblichen Vergnügen auch noch der freche Triumph, wenn die hinter uns herrannten und wir mit elegantem „Köpfer" oder einem „Bauchplatscher" das Weite suchten. Im Pfarrgarten von Veitshöchheim warteten die besten Birnen weit und breit und auf der Obstplantage der Lehranstalt viele Apfelsorten auf unsern Besuch. Da wir unsere Einsätze weit streuten und sehr darauf achteten, dass wir keinen Schaden anrichteten und wir auf sandigem Boden mit einem Zweig sogar die Fußspuren verwischten, fiel unser Gastspiel kaum einmal auf.
Am Rand von Gadheim steht heute noch die große Scheune, die oft unser Ziel war. Sie war frei zugänglich und gehörte dem Bauer Gehrig. Je nachdem, wie viel Stroh darin gelagert war, sind unsere Spiele da drinnen abgelaufen. Wir bauten Höhlen, fanden Nester mit Eiern des freilaufenden Federviehs, kletterten bis hinauf ins Dachgebälk und versuchten uns in der Kühnheit des Sprunges hinab ins Heu zu übertreffen. Das Zentrum des Weilers – heute ist es ein kleiner Platz - zierte ein Dorfweiher, der an drei Seiten mit einem einfachen Geländer abgesichert war. Außer den Hinterlassenschaften der domestizierten Vogelwelt war auch noch ein wenig Wasser vorhanden. Da schwammen mal größere Bretter oder Balken drin herum. Ein besonders vorwitziger großsprecherischer Besucher bei einem unserer Freunde hat einige dieser Brocken zu einem Floß gefügt und stakte mit Hilfe einer Bohnenstange über das grünliche Meer. In der Mitte ereilte ihn das von uns ersehnte Malheur und er stand bis an den Bauch in der wohlriechenden Brühe, die schon bald unter der Oberfläche in immer dichteren Zustand überging. Mit einer langen Stange und der Mithilfe des Bauern Wahler zerrten wir den Burschen an Land. Schön sah er aus. Und in diesem Zustand musste er nun bis hinunter zum kalten Brunnen laufen. Der Dreck war in der Sonne zu einem Panzer getrocknet, der schon abbröckelte von der Haut, aber nicht von seiner Kleidung. Inzwischen Mitleid empfindend haben wir ihn gemeinsam am Brunnen wieder in einen menschenwürdigen Zustand versetzt.
Zu den Tieren des Waldes zählen auch „Viecher", die zu negativen Erfahrungen beitrugen. Da waren die Wespen, die das sommerliche Frühstück auf der Veranda wegen unserer Abwehr- und Ausweichbewegungen zum Frühsport werden ließ. Wo kamen die nur immer so schnell her?. Als ich viele Jahre später im Spitzboden des Hauses das dort seit Jahrzehnten lagernden Gerümpel wegräumte, wurde offenbar: Wie in einem von Hunderten weißer Lampions erfüllten Ballsaal glaubte man im Dachboden zu sein. Lauter Wespennester in allen Größen von Hühnerei bis Fußball hingen an den Ziegeln und ihre Insassen hatten nur 4, 5 Meter bis auf unser Geleebrot. Von meinem Onkel hatte ich zu Weihnachten einen weißen Lederfußball bekommen. Wir spielten hinter dem Haus. Er flog weit ins Gebüsch. Ich suchte ihn und glaubte ihn zwischen den Zweigen einer Schwarzdornhecke hängen zu sehen, doch merkte ich sofort, das ist kein Leder, sondern nur Papier, als ich es anfasste. Ein erster Stich schon machte mich aufmerksam, um was es sich wirklich handelte und dass weitere sogleich folgen werden. Es ging trotzdem noch gut, weil ich mich auf der Erde befand und davonrennen konnte und nur sechs Stiche an den Händen zu pflegen waren. Anders war es, als ich an unserem Kletterbaum die Spitze fast erreicht hatte und diesmal mit festem Griff ein im Stamm befindliches Wespennest verschloss. Mehrere Stiche auf kleinstem Raum machten alles klar: Hier hatten sich Wespen in einer Höhlenbrüterwohnung breit gemacht. Das höllische Gebrumm machte deutlich: Hier hilft nur eines:„nichts wie weg". Also Absprung. Mehr als fünf Meter durch das Geäst der Eiche hinein in Brennnesseln und Strauchwerk waren immer noch besser als von einem ganzen Wespenschwarm niedergemacht zu werden. Noch ärger hat es Marianne erwischt. Wir spielten „Verstecken". Sie erkor sich als Schlupfwinkel die Holzlege. Dort hatten sich Hornissen eine Heimstatt geschaffen. Mit dem Kopf hat sie dort angeklopft. Mehrere der „Neuntöter" haben ihre Kopfhaut beharkt. Es war ihr Glück, dass die Einstiche an Stellen war, wo das Gift nicht viel anrichten konnte, aber die Haare gingen ihr an dieser Stelle aus. Wir hatten große Angst um sie, waren wir doch noch der weit verbreiteten Meinung, dass der „Neuntöter" wirklich, wie man erzählte, so überaus gefährlich sei. Wir waren immerhin vom nächsten Arzt ein halbe Stunde des Weges entfernt und kein Telefon weit und breit. Da waren „Schnaken „ und „Bremsen" weniger gefährlich, doch unangenehm waren sie auch. Einmal wurde ich von „Bremsen" regelrecht gejagt. Mit dem Fahrrad fuhr ich auf der Landstraße von Gadheim in der warmen Abendsonne in Richtung Oberdürrbach, da fiel mich der Schwarm an. Ich trat in die Pedale was das Zeug hielt. Werner, der nachfolgte sagte hinterher, es habe ausgesehen, als hätte ich einen Schleier hinter mir hergezogen. Eine Kurve ging ich zu schnell und eng an und ich stürzte in den Straßengraben. Die Macke am Knie war halb so schlimm aber diese erbärmlich juckenden Quaddeln an Kopf und Nacken, da war ein Wespenstich dagegen ein Vergnügen. Als ich im letzten Jahr von einer Wespe oder Biene erwischt wurde, war das allerdings wesentlich schlimmer. Entweder haben die Viecher neue Kampfmittel entwickelt oder sich infiziert. Jetzt schau ich, dass ich ihnen aus dem Weg gehe.

 

Kinder und Waffen

Es scheint zu allen Zeiten für Buben zumindest ein besonderer Reiz darin zu liegen, mit Waffen umzugehen.  Ob diese Einschränkung auch heutzutage noch gültig ist bezweifle ich aller­dings seit sich die Damenwelt zu Uniform und Kriegsspiel drängt.  Wir waren da auch keine Ausnahme.  Das ging an mit Schnelzern, anfangs ganz harmlos mit Gummiringen zwischen den Fingern gespannt und mit gefaltetem Papier als Geschoss, dann kamen schon Astgabeln  mit Gummiringen von Weckgläsern plus Kieselsteinen und Krampen.  Sehr beliebt waren auch Blasrohre.  Da konnte man mit gekauten Papierkugeln oder Kitt ziemlich genau schießen und treffen.  Solche Sachen haben wir auch während des Unterrichts in der Schule gemacht.  Glaubte man sich unbeobachtet, flog alles mögliche hin und her und mit dem Blasrohr ziel­sicher.  Während der Lehrer an die Wandtafel schrieb, konnte man so ein feuchtes „Bätzchen“ nahebei platzieren.  Einmal schaffte ich es – natürlich wieder mal ohne es zu wollen – ihm, als er sich umwendete, auf die Brille zu treffen.  Meine „Tracht“ hatte ich wieder mal weg, meine Treffsicherheit und mein Mut wurde gerühmt.  So kommt man ungewollt zu Ansehen: „Der August hat sich widder emal was geleist.“

Stärkerer Tobak waren dann Pfeil und Bogen, anfangs mit Haselnuss-Stecken und Schnur, die Pfeile dünne Ruten.  Im fortgeschrittenen Stadium stellten wir die Bogen aus den Stahlstäben von Regenschirmen, drahtumwickelt und gespannt her und verwendeten als Pfeile einzelne Fahrradspeichen.  Es ist geradezu ein Wunder, dass uns beim hantieren mit diesen Dingen nie was passiert ist.  Blechbüchsen waren die Ziele, wenn wir unsere Treffsicherheit testeten.  Und die Ratten, die in den Unterführungen des Quellenbachs, in den Lagerhallen und Stallun­gen und in den Gerümpelhaufen der Produktenhändler hausten und einfach nicht auszurotten waren, die in die Höfe huschten und in Kellern über die Vorräte herfielen, waren Ziele, für die wir sogar belohnt und belobigt wurden.  Unsere Pfeile fanden da reiche Beute.

Je älter wir wurden, desto mehr entfernten sich unsere Aktivitäten von den Spielchen der Kind­heit.  Als die im Zuge des Luftschutzes durchgeführten Entrümpelungen, bei denen vor jedem Haus ganze Haufen von Dingen, die sich im Laufe der Zeit in den großen Speichern der Häuser an­gesammelt hatten und die nun unter Aufsicht der Luftschutzwarte geräumt wur­den, aufge­türmt waren, war unsere Stunde gekommen.  Wir krochen selbst durch alle Risse und Spalten, halfen den Fuhrleuten beim Aufladen und was uns gut und für unsere Zwecke brauchbar er­schien wanderte wieder in unsere eben erst entrümpelten Speicher.  Was wir al­ler­dings dort deponierten waren keine brennbaren Sachen.  Als mein Papa unseren Dachbo­den einmal in­spizierte, weil er wissen wollte, was ich so oft dort oben trieb, hat er eine schö­ne Waf­fen­sammlung bewundern können.  Er fand das aber gar nicht gut und ich sollte das al­les rüber zum Gotthilf schaffen.  Ich fand Abnehmer für einiges, manches versteckte ich bei meinen Büchern im Spitzboden.  Es ist alles verbrannt.  Heute wären Hellebarde, Säbel, Flo­rett, Pisto­len, Bajonett und Pickelhaube gesuchte Antiquitäten von großem Wert.  Für mich sind die ver­brannten Bücher ein noch viel größerer Verlust.  Da haben die Tommys das Werk der Na­zis konsequent fortgesetzt.  An viele der Bücher kann ich mich noch gut erinnern, weil ich sie gelesen habe. Da war die Räuberbande von Leonhard Frank, Berlin Alexanderplatz von Al­fred Döblin, die Hausapotheke von Erich Kästner, Wolf unter Wölfen von Fallada, Deutsch­land über alles von Kurt Tucholski, das Schloß von Franz Kafka, Jahresbände der Weltbühne, der Untertan von Heinrich Mann und von Thomas Mann der Zauberberg und die Budden­brooks, auch Bände von Remarque, Feuchtwanger, Brecht, Zweig, Kisch, Hasencle­ver Heine und Mühsam.  Für einen ganzen Berg von Bänden hatte ich noch keine Zeit oder Ver­ständ­­nis aufbringen können.  Bei aller schönen neuen Literatur, mein Herz hängt an diesen Büchern und den Menschen, die sie geschaffen haben, den großen verbrannten Dichtern vor allem der unvergesslichen 20er Jahre, der Zeit der Republik von Weimar.

Bei den Entrümpelungsaktionen hatten wir uns auch mit allerlei Waffen eingedeckt.  Wir waren ja keine Sammler, die sich das Zeug an die Wand hängen oder archivieren. Wir wollten das auch ausprobieren.  An Munition für Gewehre, Pistolen und Revolver kamen wir nicht ran, allenfalls an KK-Munition und die konnte man mit den kleinen Teschings verschießen.  Weil das Schießen auf Zielscheiben nur dann richtigen Spaß macht, wenn diese einer in der hand hält, haben wir das auf dem Spitzboden unseres Hauses ausprobiert.  Ein Hausbewohner hat uns dabei überrascht.  Er drückte die Falltür aber genau in dem Moment hoch, als der Itzich auf die von mir gehaltene 12er-Scheibe abzog.  Da wurde mein Handgelenk zum 12er und der Itzich traf ins Schwarze.  Im Lukra wurde der Fall schmerzhaft, aber ohne Folgen ge­löst.  Dem Arzt haben wir versprochen, das nie wieder zu tun.  Das war nicht weiter schwer, es gibt ja so viele andere Möglichkeiten....

In einem Film hatten wir die Helden – wir wurden unentwegt mit solchen gefüttert, sollten ja selber welche werden – bewundert, wie sie mit Säbel oder Florett fochten.  Da es uns an solchen Geräten auch nicht mangelte, haben wir das natürlich kopiert.  Erst mit Rohrstöcken, dann mit Sportfloretts, irgendwann auch mit echten Raritäten.  An meiner rechten Hand zeugt  heute noch eine schwach sichtbare Narbe von einem Gefecht, das nun schon bald siebzig Jahre her ist und nach dem Werner, der Sieger, mit mir den üblichen Weg ging und wir beide wieder trefflich belehrt von dannen gingen.

Werfen und „Schmeißen“ war immer angesagt.  Ob es nun darum ging, einen Ball oder Stein möglichst weit oder auf was bestimmtes zu werfen, oder zu treffen, das war echte Bubensache.  Da ging immer wieder mal was zu Bruch, eine Fensterscheibe, oder ein Blumentopf.  Dann gab’s Dresche, Strafarbeit oder Ausgangssperre.  Wenn es irgendwie zu deichseln war, haben wir uns der Strafverfolgung durch eilige Flucht entzogen und da ging es schon mal durch fremde Anwesen, Werkstätten oder auch über das Dach ins Nachbarhaus, durch Hinter­höfe in andere Straßen, denn eine Haftpflichtversicherung hatte niemand und wenn der Papa hätte zahlen müssen, wäre es ans Eingemachte gegangen. 

Bei der Abendveranstaltung zur Verlegung von Stolpersteinen in 
Würzburg- Grombühl am 11. Februar 2oo8 

erzählte Helmut Försch über seine Kindheit und Jugend während der Nazizeit.

Grombühl 1933 – 1945   -  M. s.v.D +H

Mit wenigen Blitzlichtern darf ich Sie in die Zeit meiner Kindheit und Jugend führen, davon erzählen, wie ich sie erlebt habe.  Im Juli 1928 geboren, war ich am Ende der Diktatur noch nicht ganz 17 Jahre.  Ich habe diese Zeit, zumindest von meinem achten Lebensjahr an, mit wachen Sinnen erlebt.  Dabei lagen Begeisterung und Enttäuschung, Elternhaus und Schule, Pflicht und Gewissen immer wieder im Widerstreit.  Ich habe damals nichts getan, dessen ich mich schämen müsste, aber ich gehöre zur Tätergeneration und habe zeitlebens schwer an dieser Hypothek getragen.  Von 1946 an habe ich mich mit dieser Vergangenheit beschäftigt und deshalb sind mir Geschehnisse und Gefühle, Gespräche und Reflexionen gegenwärtig.

Grombühl war ein Stadtteil, mehr eine Vorstadtgemeinde der kleinen Leute, der Arbeiter, Handwerker und Beamten.  Unmittelbar nach der Machtübernahme waren die Parteien  und Organisationen der demokratischen Linken ihrer Führung beraubt, die aktiven Mitglieder in Kerker und KZ eingeschlossen oder unter Rechtsbeugung verurteilt.  Viele blieben dauernd verschwunden, andere kamen schweigend zurück.  Oft werde ich gefragt, ob man denn nicht gemerkt habe, was da geschah.  O ja, das Verschwinden von Menschen bis zum Beginn des Krieges wurde sehr wohl registriert, es wurde ja sogar in den Zeitungen veröffentlicht, wenn man wieder einmal einen Kommunisten, Sozialisten, Geistlichen oder Widerspenstigen aus dem Verkehr gezogen hat.  Da wusste man, das waren Gegner der Nazis.  Bei vielen anderen, die unter die Räder kamen, war das anders.  Sie verschwanden zum Teil spurlos oder wurden, wie die jüdischen Mitbürger und die Euthanasieopfer zuerst in Häusern und Heimen zusammen gepfercht, eines Tages umgesiedelt und an anderen Orten umgebracht.  Ab 1939 waren Millionen von Menschen zum Militär, zum Kriegsdienst, zum Arbeitseinsatz zwangs­verpflichtet oder evakuiert worden.  Es gab kaum eine Familie, in der man nicht um einen Menschen bangte und weinte.  Das nutzten die Kolonnen der Vollzugsbeamten des Terrors, ihre Gefangenen endgültig verschwinden zu lassen.

Man lebte hier wie in einem kleinen Städtchen.  Man kannte einander.  Die wenigen aktiven Nazis waren durch die zur Schau getragenen Uniformen und anfangs mit Hakenkreuzfahnen vor ihren Fenstern bekannt.  Bei uns in der Grombühlstraße hingen nur ein paar davon.  Die Bürger wurden aufgefordert, diese Fahnen raus zu hängen.  Nichts half.  Schließlich wurden die Hausherrn verpflichtet, sie zu kaufen und Halterungen anzubringen. Weil mein Vater sich weigerte, ich aber seit kurzem begeistert beim Jungvolk war, hängte ich sie raus. Man grüßte mit „Grüß Gott“ oder „Guten Tag“, die Nazis  kannte man auch ohne das Parteiabzeichen.  Der Frisör Grümbel gegenüber hat während seiner Arbeit kein Blatt vor den Mund genommen, hat auch Witze über die Nazis erzählt während ich wartete dran zu kommen..
Er hatte eine Enkelin, Hannelore, die Halbjüdin war.  Er wurde nicht verpfiffen, Tochter und Enkelin geachtet.  Als ich mit den Naziparolen „Die Juden sind unser Unglück“, mit Ausdrücken wie Abschaum, Novemberverbrecher, Blutsaugern und Untermenschen von der Schule heimkam, sagte mein Vater: „Meinst Du wirklich, dass die Juden die du kennst, Unglück, Blutsauger, Abschaum sind“ „Aber Papa, ich kenne doch gar keine Juden“ „Natürlich kennst du sie:  zum Beispiel Herrn Gotthilf,  die Kastanienbaums und Dr.Loeb“ . „Das sind Juden?“  Herrn Gotthilf hatte ich ins Herz geschlossen, nicht nur, weil er aussah wie der Gottvater in meinem Katechismus. Er strich mir auch zuweilen gütig über die Haare , er gestattete mir auch, in seinem Papierlager zu stöbern und mitzunehmen was mir gefiel. Dort wurde die den Nazis nicht genehme Literatur eingestampft und ich schleppte sie heim: Kästner, Tucholski, Feuchtwanger, Frank, Fallada, Mann, Morgenstern – sie blieben nicht ohne Einfluss auf meine Entwicklung. Auch die Kastanienbaums mochte ich.  Wir Buben hatten meist mit Frau Kastanienbaum zu tun, wenn wir ihr unser Altmetall brachten.  Wir sagten: „Bei der „Bella“ kriege mer e weng mehr wie beim Gotthilf für unner Zeuch“  Sie fragte uns immer genau aus, woher wir die Sachen hatten.  Ab 1935 waren Entrümpelungen der Dachböden wegen des Luftschutzes angesagt.  Wir boten den Nachbarn an, das wegzubringen, halfen beim Entrümpeln, legten für uns Wertloses auf die Straße, aber Blei, Kupfer, Zinn, Messing  ging mit uns zu Bella und Gotthilf. Vor dem kleinen Kabäuschen mit der Waage, in dem Bella Kastanienbaum mit uns abrechnete und herrschte, saß bei schönem Wetter  ihre Mutter „Oma Tine“ –  in der Sonne und strickte, schaute dem Verkehr und unserm Treiben zu.

Wir Buben sind aus damals verständlichen Gründen zumindest anfangs von Jungvolk und HJ begeistert gewesen.  Wir hatten nur einfachste Kleidung, kurze Hosen, lange schwarze wollene Strümpfe mit Straps und Leibchen und die, die lockten mit Schihose und Fahrten­messer, Geländespiel und Zeltlager, Segelfliegen und Seesportschule, Schifahren und Reiten und unsere Jungvolkführer kamen von den Pfadfindern und bauten diese nach dem Krieg auch wieder auf.  Der NS spielte dort  nicht die überragende Rolle wie in der Schule. Erst als ich mit 14 Jahren ins Schul­heim der LBA wechselte, lernte ich die menschenverachtende und kulturfeind­liche Dressur zum willenlosen Befehlsempfänger kennen.  Daraus und aus den Versuchen meines Vaters, mir ein eigenes Bild zu vermitteln, ergab sich eine zunehmende Distanz zu diesen Leuten, auch wenn Papa mir vom 11. Lebensjahr an nicht mehr als Freund und Berater zur Verfügung stand, weil er alle Offerten der Nazis, bei ihnen mitzuarbeiten ablehnte und deshalb dienstverpflichtet wurde – ich lernte mit offenen Augen.

Meine Eltern waren bis zum Verbot 1933 Mitglied der Naturfreunde gewesen und in sozialem Kontakt mit der demokratischen Linken.  Einige von ihnen waren den Nazis ins Netz gegan­gen.  Da hörte ich öfter, dass man wieder einen geholt hatte und da hing immer ein Schicksal dran: Namen wie Albert, Sittig, Schwab, Kröckel, Brand, Schubart, Freuden­berger tauchten in Gesprächen der Eltern und ihres Freundeskreises immer wieder auf.  Martin Adelmann aus unserm Haus und Ernst Thalheimer von nebenan verschwanden spurlos.

Wir Buben in Grombühl haben in zwei Welten gelebt, die sich nicht mischen ließen.  Wir gingen zum Kommunionunterricht, marschierten begeistert im Jungvolk mit, aber wir gingen zu Bella und Gotthilf, pflegten Umgang mit gefangenen Franzosen, später mit  Russen und Fremdarbeitern, sammelten Kippen für sie und Rohtabak von den Zigarrenfabriken Bayerl und Sauer, zweigten Kartoffeln und Brot ab und legten das an den Platz, wo Iwan vorbei kam.  Wir warfen es den zerlumpten Russen und Zwangsarbeitern zu, die abends von der Nürnberger Straße kommend von Soldaten durch die Grombühlstraße getrieben wurden – ein Elendszug, der so manchen Menschen nachdenken  ließ:.   „Wenn wir das nicht einmal büßen müssen.“ hörte ich Nachbarn offen aussprechen.

Bis lang nach dem Krieg glaubte ich noch an dieses schöne Bild von den anständigen Grombühler Bürgern insgesamt.  Die für mich sichtbare Trennung zwischen Nazis und einer schweigenden Mehrheit.  Einer schweigenden Mehrheit, der im überwiegenden teil nicht bewusst war, welche Mitschuld, zumindest aber Mitverantwortung sie auf sich geladen hatte, die auch nicht ahnte, was alles in ihrem Namen geschehen war und noch geschehen würde.  Erst Recherchen, vor allem auch in den Akten der Gestapo zeigte:  Es gab auch Informanten, Verleumder, meist aus niedrigen Beweg­gründen oder weil sie sich einen Vorteil, eine Beförderung, das Gut eines andern oder eine UK-Stel­lung versprachen, wie uns das Schicksal von Philipp Tripp zeigt, dessen Stolperstein wir heute verlegt haben.  Die Stolpersteine sollen auch diese Seite beleuchten und mahnen.  Sie sind für mich Ansatz zur Aufklärung in den Schulen, Mahnung vor den Gefahren des Rechtsradika­lismus und vor allem die Erinnerung an unsere ermordeten Mitbürger.  Sie sollen aber auch Mut machen, sich mit offenen Augen in unserer Zeit zu bewegen und überall dort, wo Menschenrechte in Gefahr sind, Menschen bedroht, ausgegrenzt, in ihrer Gesundheit oder ihrem Selbstwertgefühl verletzt werden, engagiert einzugreifen nach eigenem Vermögen.

Dann können wir beruhigt schlafen.

Zum Thema

Von jugendlichen Straftätern, Heuschrecken und Nebelkerzen   

von Helmut Försch

Zur Zeit wird viel Dampf gemacht im Vorfeld der Landtags- und auch schon der Bundestagswahlen. In dieser Hexenküche der Halbwahrheiten und gezielt gesteuerten Emotionen lässt sich gut mit der Angst der Menschen und mit der Ablenkung von den Fehlern und den Gründen für die Entwicklung der letzten Jahre argumentieren und handeln.  Was steckt denn hinter dem Problem der Jugendkriminalität? Oder dem Abwandern ganzer Industriezweige ins Ausland? Oder der rapid wachsenden Armut in diesem reichen Land? Oder der hilflosen Versuche der Politik aus dem von Heuschrecken und Krokodilen fein gestrickten Netz noch einen gangbaren Weg zu finden.?
Das Volkseigentum an Immobilien, Industrie, Verkehr, Post und Bahn wurde verschleudert, die Rentenkassen geplündert, für Rüstung, militärische Abenteuer, Prestigeobjekte und fragwürdige Repräsentation wurden Schuldenberge aufgehäuft. Bildung und Ausbildung wurde sträflich vernachlässigt, in letzter Zeit sogar privilegiert, genau so wie auch das Gesundheitswesen zunehmend zu einem Klassenthema wird.  Fachkräftemangel bei großer Arbeitslosigkeit und daneben Führungskräfte, die Summen davon schleppen, mit denen sie verschuldete Städte sanieren könnten. Um Arbeitsplätze zu schaffen schaufelt die Politik Milliarden in den Rachen der Wirtschaftsmafia. Die lachen sich ins Fäustchen, kassieren und hauen ab. Die Arbeitsagentur zahlt für die Bereitstellung eines Arbeitsplatzes einen Teil des Entgelts. Mit Abschluss der Maßnahme fliegt der wieder raus.
Ein Teil der Schulabgänger bekommt keinen Ausbildungsplatz, sehr viele müssen sich mit einem Job zufrieden geben, der keine Freude macht. Junge Menschen geladen mit Wünschen und Energie, die keine Erfüllung finden, sehen zu, wie andere mit Geld und Prestige um sich schmeißen, haben nicht die Mittel, sich eine weitere schulische Aus- oder Fortbildung zu leisten und wenn sie das doch versuchen können, danach trotzdem auf der Straße stehen.  
Die Bildung insgesamt wird durch Schulgeld und Lernmittelkosten erschwert. Auf Grund des sozialen Standes bedürfen viele Kinder schon in den Grundschulen psychologischer Hilfe.  An Fachkräften, die das bewältigen können fehlt es.
Wenn ein Jugendlicher erstmals mit dem Gesetz in Konflikt kommt, dann ist es sicher hilfreich, wenn er mal ein paar Tage in Untersuchungshaft nachdenken kann und wenn er dann auch noch mit geschultem Personal über seine Lage und seine Chancen reden kann. Auf solchem Wege kann man die meisten abhalten, weiter abzurutschen. Es wird sich aber nur dann insgesamt etwas ändern, wenn die Ursachen angepackt werden: das Kind schon muss von der ersten Klasse an gefördert werden, familiäre Defizite müssen erkannt, bereits bestehende vom Schulpsychologen behandelt werden. Auch der finanziell Unvermögende muss die gleichen Bildungschancen bekommen. Es muss darauf geachtet werden, dass die Talente erkannt und zielgerichtet gefördert werden. Ob ein Studium angestrebt werden kann, darf allein von der Eignung abhängig sein. Wenn die Arbeitgeber nicht ausbilden, müssen sie eine Abgabe entrichten, die den ausbildenden Firmen gutgeschrieben werden.  Wenn es um Ausbildungs- und Arbeitsplätze geht, steht nur selten der Mensch im Mittelpunkt der Überlegungen und Entscheidungen, sondern der Gewinn, die Rendite, das Interesse der Eigentümer und Geldgeber.  Allein aus solchen Erwägungen werden Firmen geschlossen oder verlegt, werden Arbeitnehmer "freigestellt", wird Familien die Zukunft verbaut, werden Menschen, die ihr Leben lang schwer gearbeitet haben, künftig mit einer Rente, die kaum oder nicht einmal den Fürsorgesatz übersteigt abgespeist.
Wenn heutzutage handwerklich und akademisch gebildete Menschen mit 1-Eurojobs ihr Leben fristen müssen, dann ist das eine Bankrotterklärung der Gesellschaft. Wenn ein Mann, der ein Vierteljahrhundert geschuftet, sich ein Leben lang für seine Familie und die Allgemeinheit eingesetzt hat, mit 50 Jahren nicht nur seinen Arbeitsplatz, seine geordnete Zukunft eingebüsst hat, sondern auch all sein Erspartes und sein Eigentum und damit ein unbeschwertes Alter verliert, dann ist das ein Verbrechen.  Das erkennen natürlich auch die Betroffenen und das wissen auch die Politiker, die an den Schalthebeln der Macht sitzen. Und jene vermuten mit Recht, dass sich die Ausgebeuteten und Entrechteten das eines Tages nicht mehr gefallen lassen und deshalb ist es auch sonnenklar, warum die ständigen Versuche, die Freiheitsrechte der Bürger einzuschränken, sie zu überwachen und schließlich auch die Bundeswehr im Innern einsetzen zu können, immer mehr an Ungeduld und Schärfe zunehmen. Die ersten Schritte dazu sind getan.  Abhören und Schnüffeln sind bereits gängige Praxis und die Frage, ob die Methoden der Stasi als Vorlage dienten oder bereits übertroffen werden, wäre zu stellen.  
Der Traum von den Vereinigten Staaten von Europa ist ausgeträumt. Er hat lediglich eine immense Bürokratisierung und eine ungezügelte Globalisierung der Märkte gebracht.  Wenn das Wohl der Menschen - aller Menschen und der Natur - wieder in den Mittelpunkt von Zukunftsvisionen kommen soll, müssen alle Kräfte darauf gerichtet werden, die Demokratie zu stärken, der Politik wieder in die Lage zu versetzen, Entscheidungen zu treffen, vor allem die Diktatur des Suprakapitalismus zu brechen.  Das wird sehr schwer sein, denn sie besitzen die Macht der Wirtschaft, ihnen gehören die Medien, sie verfügen über die militärischen Resourcen und sie sind dabei, das Bildungsmonopol durch Rückkehr zur Klassengesellschaft zu etablieren.

 


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