Helmut Försch - mail: helmut.foersch@gmx.de

 

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 Meine homepage soll einen Einblick geben über mich, meine Ideen, Erfahrungen und Erlebnisse, aber auch in meine Reden und Arbeiten

Über mich

Wer über mich mehr wissen möchte, kann das in der Rubrik "Meine Geschichten" als "Das war's von 1928 - 2017" nachlesen. Das habe ich schon mal aufgeschrieben.  Da ich schon so manches vergessen habe, bitte ich alle, die dabei waren oder mir über den Weg liefen, mir notwendige Korrekturen oder Ergänzungen zu mailen. Über Rückmeldungen per Mail würde ich mich freuen.      Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

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Manifest für den Frieden: ich habe unterschrieben, jetzt sind es schon über 200 000 Es müssten 50 Millionen werden. Dann wacht die Regierung vielleicht auf.

 

 

   Erlebt und aufgeschrieben

 

 

Die kleine Bank 

                                               1943-1944                                                       

Damals wohnten sie am Rande der Vorstadt in der breiten Straße mit Gehsteigen, auf denen die Leute noch zum Plausch beisammenstehen konnten, wo die Buben Schusser spielten und die Mäd­­­­chen ihre Hüpfspiele mit Kreide oder Ziegelstücken auf den Boden gemalt haben. Es war eine kleine Welt mit der Schule gleich droben am Berg, dem Bäcker, Metzger und Frisör gegenüber, einem Kramladen im Haus der alles vorrätig hatte: vom Bindfaden und Petroleum bis Kartoffeln, Schokolade und Arbeitskittel. und schräg gegenüber gab es einen Produkten­händler, der alles verwertete, was nicht mehr gebraucht wurde; ein Eldorado für die Buben, weil man in den weiten Lagern alles finden konnte, was man als neugieriger Junge brauchen konnte und was die Phantasie beflügelte. Damals waren viele Bücher verboten worden und dort wurden sie eingestampft. Eine kleine Bücherei konnte sich Georg von dort retten und zuerst unter seinem Bett deponieren.  Später, weil der Papa befürchten musste, dass eine Haussu­chung auch bei ihnen erfolgen konnte, hat er seine Schätze im Spitzboden des Hauses, wohin eigentlich nur der Kaminkehrer kam, unter einer Blechwanne versteckt. Es war eine Welt der kleinen Leute, wo Nachbarschaft und Hausge­meinschaft feste Begriffe waren, die Hilfe, Mit­ge­fühl, Teilnahme und Schutz bedingte. In diese Welt brach der Faschismus ein, wie ein Win­tersturm, der vieles veränderte. Die Erwachsenen wussten, wem man vertrauen konnte, aber es war nicht mehr wie vorher.  Die Kinder waren einer Schule ausgeliefert, die durch eine bisher nicht gekannte Politisierung von Lehre und Erziehung die Entfremdung zwischen El­tern und ihren Kindern anstrebte. Da war es gut, wenn man einen Freundeskreis hatte, in dem man über alles reden konnte. Und Georgs Eltern, die in den zwanziger Jahren ein kleines Handwerkergeschäft und bald danach eine Familie gegründet hatten, waren der Arbei­terbewe­gung und den Gewerkschaften verbunden. Am Rande des Edelmanns­waldes haben sie ge­meinsam mit den anderen sozialistischen Verbänden in den 20er Jahren ein Wander­heim gebaut, das ihnen jedoch im März 1933 von den Nazis weggenommen, ausgeplündert, herun­tergewirt­schaftet und 1936 mit ande­ren Häusern dem Fränkischen Albverein geschenkt wor­den war.  Die Freunde aber haben das genutzt, einen Ortsverein dieser Gruppierung gegründet und sich damit eine Stätte der Be­gegnung geschaffen, in der man weitgehend unter sich war. Man traf sich, verlebte gemein­sam das Wochenende mit Spiel und Unterhaltung, Wanderungen, gemeinsamen und intimen Gesprächen. Am Sonntagabend ging es dann über Berg und Tal mit ihren Liedern auf den Lippen zurück in die Stadt. Für Georg war das, neben Schule und Jungvolk, eine zweite, eine andere Welt. Er war ein empfindsamer Junge, der oft weiter dach­te, als man vermuten konnte. Er, der Prügel nicht kannte, war zutiefst erschrocken, als er in der Schule mit Rohrstock, Ohrfeigen und anderen Misshandlungen brüskiert wurde, auch wenn er selbst nicht betrof­fen war, vor allem, wenn Schüler seelischen Grausamkeiten ausge­setzt waren.  Nicht jeder Pädagoge, aber viele haben die Lern­schwäche der Kinder dazu be­nutzt, sie wegen schwacher Leistungen vor der Klasse zu demütigen. Georg empfand das mit­leidend als viel schlimmer als die Prügeleien mit Hand oder Stock. Noch im hohen Alter er­zählte er davon und mokierte sich darüber, dass man heute wegen einer Ohrfeige etc. bestraft wird, aber munter weiter diskriminiert werden kann. Als während des Krieges Kriegsge­fange­ne, Fremd- und Zwangsarbeiter überall die an der Front ste­henden Männer in Haus, Hof und Fabrik ersetzen mussten, es aber verboten war, mit ihnen zu reden, hat es die Jungen dort unten nicht abgehalten, dieses Verbot zu missachten.  Sie radebrechten, handel­ten, tauschten mit ihnen.  So manches Pausenbrot landete bei Jean, George, Iwan oder Swat­scheslav, man besorgte Zeitun­gen, Wörterbücher oder Holzstücke (zum Schnitzen), sammelte die Tabak­reste von der Rohta­bakhandlung nebenan. Fast jeder seiner Freunde hatte ein Anden­ken von ihnen. Francis hatte Kasperköpfe geschnitzt und Jean aus silbernen 2-Mark­stücken Totenkopfringe gemacht. Und diese Schätze brachten sie mit hinaus zur Hütte am Waldrand, um sie den Freun­den zu zeigen und mir ihnen zu spielen oder zu tauschen.   

Die Eltern aller dieser Kinder, die sich dort trafen, versuchten natürlich, zu ihrem eigenen Schutz, den Kindern nicht merken zu lassen, dass sie so gar nicht einverstanden waren mit dem Regime, aber sie haben versucht, sie behut­sam in ihrem Sinne zu leiten.  Georgs Eltern ist das gelungen, Anderen nicht.

 Es war an einem sonnigen Tag im Frühjahr 1943. Nur wenige Leute waren an diesem Sams­tag draußen am Wald.  Georg suchte am Waldessaum nach Pilzen und Kräutern, beobachtete dabei auch Wildtiere. Da hörte er das keifende Schreien der in der Nachbarschaft lebenden Eigentümerin einer alten Villa, die nach der, ihr als Arbeitskraft zugeordneten Zwangsarbeite­rin, rief. Ka-ta-riii-na, Ka-ta-riiii-na. Sie hieß also Katharina, das hat Georg diesmal deutlich gehört.  Die Tür des Schup­pens, in dem eini­ge Bienenkörbe, eine alte schwarze Kut­sche mit Deichsel und vier Kandela­bern, Peitschen, Geschirre und Sattelzeug stand, flog auf, und mit fliegenden, dunkelblonden Haa­ren, rannte ein Mädchen auf die hundert Meter entfernte Villa zu. Wieder hörte er rufen, die Frau schien ziem­lich böse zu sein.  Hat diese Katharina etwas falsch gemacht, eine Anordnung nicht befolgt? Georg hat sie vorher nur einmal von weitem gesehen, als sie drüben an dem Berg­rücken, wo sich der Blick ins Maintal und auf den Berg­rücken hinter Margetshöchheim weit öffnet, mit einem Rechen im Heu zugange war. Dieses harsche Rufen der Herrin und die im Winde wie ein Schleier wallenden, in der Sonne leuch­tenden Haare blieben ihm im Sinn, als er zurückkehrte zu den Eltern. Das Mädchen könnte in seinem Alter sein, aber nicht nur deshalb war sein Interesse geweckt. Katharina, ein schöner Name – ein schönes Bild.

Sehr viel später, die Freunde waren gekommen, man war gewandert, war nun um die Linde versammelt bei Singen und frohem Spiel. Da ging Georg wieder rüber zum Waldrand, mal schauen, vielleicht das Mädchen von vorne sehen, er war ja schon in dem Alter, wo man neugierig ist, wo man was spürt, dem aber noch keinen Rang oder Inhalt geben kann. Und es war ja angesagt, den Dingen auf den Grund zu gehen, die ihnen von den Lehrern eingebläut worden waren, was ihnen gelehrt wurde von den fremden Rassen, von der Reinheit des Blutes und wie doch die Gefangenen so gar nicht anders waren und aussahen. Und wenn man mit ihnen Kontakt hatte, war das doch alles offenbar ganz anders und Georg fragte sich, ob das auch stimmt, was ihnen da erzählt worden war. Ein Mädchen aus einem andern Land hatte er noch nicht gesehen, schon gar nicht mit ihr gespro­chen. Mit den Franzosen war es ja ganz gut gegangen, auch mit Milisav dem Polen. Mit Iwan war man allerdings nicht weit gekommen. Denn da war man höchstens mal in der Scheune oder im Stall mit ihm allein. Auch konnte er anfangs nicht ein einziges Wort in unserer Sprache. Ja, daheim in ihrer Straße gab es den Lenzer und den Enders mit ihren Frauen, vor denen musste man sich in achtnehmen, die haben wohl auch dem Martin auf dem Gewissen, den man nach Dachau brachte.

Georg wartete eine Weile, wollte schon wieder zurück zu den Freunden, zu „Hänschen piep einmal“, „Drei Mann hoch“ und Zwer­gentanz rund um die Linde. Da, dort bei den Apfelbäu­men keuch­te sie unter der Last eines in einem grauen Tuch zusam­mengefass­ten großen Bün­dels Heu den Berg herauf. Ihre hellen Haare fielen ihr ins schweiß­nasse, sonnenverbrannte, schmale Gesicht, klebten an Wange und Nacken... Georg ging auf sie zu, wollte ihr helfen, nein, das musste er tun, denn die zarte Gestalt schien am Ende ihrer Kraft zu sein. Doch was war mit ihr, fürchtete sie sich vor ihm, sie schaute ihn mit großen erschreck­ten Augen an, die er niemals in seinem Leben verges­sen wird, aus denen die Angst geradezu schrie. Sie schüttelte den Kopf, sagte etwas, was er nicht verste­hen konnte, nur „njet, njet,“ wie­derholte sie und lief dann so schnell sie konnte dem Haus zu.

Er hatte ihr doch nichts getan, er hat sich doch ganz vorsichtig verhalten. War er zu voreilig gewe­sen, als er auf sie zulief? das blieb in seinen Gedanken und kehrte immer wieder, auch als sie wieder um die Linde tanzten, auf dem Heimweg mit den alten Wanderliedern und bevor er einschlief, liefen die Gedanken mit ihm zurück zu Sonne, Heu, Waldrand und die weiten, kla­ren, furchtsamen Augen von Katharina.

Am nächsten Wochenende fuhr Georg mit dem Fahrrad des Vaters voraus, hinaus zum Haus „Am Kalten Brunnen“. Die Schule, die Freunde, das schöne Leben draußen und seine Bücher ließen eigentlich keine Zeit. Aber dieses Mädchen kam ihm immer wieder in den Sinn, vor allem am Abend, wenn er in seinem Bette lag, da nahm Katharina seine Gedanken gefangen. Immer wieder sah er diese fliegenden Strähnen, die großen Augen und er dachte voraus, wollte sie nicht nur wieder­sehen, überlegte, wie er’s anfangen wollte, ganz vorsichtig würde er sein – aber wie würde sie reagieren. Mit diesen Gedanken war er jeden Abend eingeschlummert.  Er stellte sein Fahrrad ab und ging gleich hinüber zu dem kleinen Gärtchen dort am Waldrand, das die Freunde sich dort herge­richtet hatten, mit ein paar Obstbäumen, aus Birkenholz und Hasel­holz gezimmerten Bänken, wohin man sich für ein stilles Stündchen zurückziehen konnte. Georg hatte sich ein Buch mitgenommen. In den Obstbäumen und Weißdornhecken summten die Bienen und Insekten. Umfächelt von Sonne, Wind und Frühlingsduft, eingefangen vom Konzert der Lerchen und Spötter, saß Georg und las in dem Buch „Damals bei uns daheim“ von Hans Fallada, der darin so eindrucksvoll schildert, wie sie lebten und Georg dachte, wie ähnlich es doch auch bei ihnen Zuhause war. Aber er lauschte zugleich nicht nur auf die Stimmen der Natur, mehr noch, es war eine Sehnsucht in ihm - ob er Katharina wiedersehen konnte, ihr angstvoller Blick hatte ihn nicht losgelassen und sogar im Traum verfolgt.

Die Villa lugte zwischen den Bäumen und Sträuchern, hin und wieder waren Stimmen zu hören. Dann kam sie, mit zwei großen Körben, und ging wieder zu diesem Schuppen. Ihre Herrin kam hinterher, eines ihrer beiden Pferde am Zügel, das sie an den leichten Einspänner anschirrte, der daneben dem Schuppen stand. Nachdem sie Katarina mit vielen Worten und Gesten Aufträge erteilt hatte, führ sie los, an der Bank, auf der Georg saß, vorbei.

Wenn jetzt diese Frau fortgefahren war, dann könnte es doch sein, dass sie nicht davonlief vor ihm. Seine Augen und Gedanken waren ganz bei ihr, wie sie da lief, sich bewegte. Sie war nur wenig kleiner als er, jetzt ohne Last schwebte sie wie eine Elfe dort an den blühenden Hecken entlang, unter dem kurzärmeligen schwarzen, viel zu weiten Kleidchen, das sich in dem lauen Lüftchen bauschte, konnte man nur einen schlanken Körper ahnen, die Schultern und Arme aber verrieten es deutlich. Sie hatte schöne dunkelblonde Haare mit Schattierungen von hell und dunkel, die wie in langen Strähnen nach hinten über die Schulten fielen. Unter der hohen Stirn und schmalen Brauen, die strahlenden graugrünen Augen, die von langen weichen Wim­pern noch betont wurden, das kleine, nur leicht gebogene Näschen und der rosige kleine Mund mit den schmalen Lippen und die betonten hohen Wangen, das weiche Kinn und zwei hübsche kleine Grübchen zeigten ein Bild, das eigentlich der Rahmen dieser herrlichen Augen war, in die man sich verlieben musste.

An der Grenze des Grundstücks gab es eine Schranke, die Katharina geöffnet hat und, als die Frau sich entfernt hatte, nun schließen muss­te. Von dort kam sie zurück. Georg hatte sich erhoben, lächelte sie an und hob die offenen Hände nach vorne unten, um ihr seinen friedlichen Willen zu zeigen, sie zitterte und Tränen verschleierten ihre ausdrucksvollen graugrünen Au­gen. Aber sie lief nicht weg. Georg sprach leise, beruhigend auf sie ein und, als sie stehen blieb, nahm er sich ein Herz und streichelte ihren Arm. Wie dünn und zart sie war, er spürte es unter dem dünnen Gewand beben, aber sich langsam, ganz langsam beruhigend und endlich, nach als lange gefühlten, bangen Augenblicken hob sie den Blick und lächelte endlich zurück.  Wahrscheinlich waren beide in diesem Moment glück­lich, erfüllt von einem unausge­spro­chenen Verstehen und es war zugleich der Anfang einer die ganze Zeit bis August 1944 beste­henden, tiefen, unschuldigen Beziehung. Es brauchte nur we­nige Worte, die sie miteinan­der reden mussten.  Wenn sie sich trafen, oft dort draußen bei der umschatteten Bank oder weiter im Wald am Krötenteich, wo er aus Ruten und Haselzweigen ein Nest gebaut hat, da saßen sie beieinander, hatten die Hände überm Rücken verschränkt, und schwiegen und träumten von einer anderen Zeit.  Georg hatte sich ein Lehrbuch der russi­schen Spra­che besorgt.  Aber damit kamen sie nicht weit. Die paar Stunden, die sie beieinander sein konnten, waren zu kostbar, sich mit Vokabeln zu quälen, denn schon allein die 33 ver­schie­denen Buchstaben, die fünf harten und fünf weichen Vokale, die kyrilli­sche Schrift und die von der unseren abwei­chende Ausspra­che waren ein Problem, aber auch, dass Georg in der Schule ohnehin gefordert war. Sie war inzwischen schon fast zwei Jahre in Deutschland.  Aber die Worte, die sie gelernt hatte, betra­fen nur ihre Arbeit und das Verhältnis zur Arbeitgeberin. Sie fanden im Lauf der Zeit die richtigen Worte und Gesten, aber auch viele Worte, die im Deutschen fast so wie im Russi­schen ausgesprochen werden.  Nun hat Georg erfahren, dass diese junge Frau, er hatte sie auf höchstens 14 Jahre geschätzt, schon 23 Jahre alt war und, das spürte er instinktiv, nichts ande­res brauchte als einen Menschen, der Nähe, Verständ­nis bot. Sie hatte dort draußen, weit weg von der Welt ringsum, keinen Kontakt mit anderen Menschen, nur mit der Frau, die sie wie einen Sklaven hielt und mit den Tieren, die zum Haushalt gehörten.

.Ja, sie küssten sich auch, immer wieder, und wenn sie sich in die Augen schauten, war die Welt ringsum vergessen. Und er schaute ihr so gerne in ihre manchmal ganz tiefen, dunklen, dann wieder strahlend hellen Augen. Aber es waren Küsse der Freundschaft, der inni­gen Zu­neigung, einer Liebe, die fern blieb von Besitz und Recht. Georg hütete sie wie ein Kleinod, das man bewahren, schützen, verbergen musste. Was hatte man ihnen doch in der Schule gelernt, dass das Untermenschen sind, dass es unwürdig ist, mit solchen Leuten zu verkehren, ja, dass es streng verboten sei. Aber das kam Georg gar nicht in den Sinn, denn das konnte doch nicht sein.  So ein zartes, braves, Engelchen konnte doch nicht schlecht oder un­würdig sein. Das zu denken allein war doch schon unmöglich, nein niemals, niemals. 

Niemand wusste von ihrer heimlichen Bezieh­ung, einzig seine Mama hat es bemerkt. Nur einmal sprach sie mit ihm darüber, machte ihm klar, was das für ihn, aber vor allem für Katharina bedeuten würde, wenn diese Beziehung offenbar würde.  Und er versprach ihr, dieses Mädchen nicht ins Unglück zu stürzen, sie zu schützen, aber sich weiter mit ihr zu treffen. Und wenn Freunde nach Georg fragten, sagte sie, dass er in ihrem Auftrag etwas zu besorgen habe.

Georg und Katharina fanden Wege für diese Samstag- oder Sonntagnachmittage, die abhängig waren von Georgs Schulaufgaben. Manchmal saß er allein, wartete vergebens, eine andermal musste sie warten und verzichten. Deshalb hatten sie einen alten Baumstumpf als Briefkasten vereinbart. Aber wenn sie sich doch wieder trafen, war das alles ver­gessen.

Ob es Liebe war? Für Georg war es sicher Liebe. Aber anders, als mit den Mädchen daheim in der Stadt, wo jeder in diesem Alter seinen Schwarm hatte und er noch hin- und hergerissen war zwischen der großen attraktiven Margot, der zarten blassen Erika oder der robusten Gerdi, bei denen auch die Sexualität schon eine Rolle spielte. Das mit der lieben, kleinen Katharina war aber etwas Anderes. Sie war so zart, so zerbrechlich und hilfefordernd, er hätte sie immerzu strei­cheln mögen wie einen kleinen Vogel. Vielleicht es ist wirklich nur so, dass diese Gemein­samkeit mit Georg für sie eine Heimat war, die man ihr gewaltsam genommen hat und er ihr ruhender Pol war. Dort draußen war sie mit ihrer Herrin, den Hunden, Pferden und Schafen allein. Dorthin kam niemand und wer sich dem Haus näherte, würde schnell von den riesigen Hunden gestellt. Man durfte sich nicht bewegen, bis die Herrin die Hunde zurückgerufen hat.

Das wusste Georg natürlich. Er kannte auch die Namen einiger Hunde, und dass er nur bis zu dem Schup­pen gehen konnte in dem die Kutschen standen, ohne von ihnen gestellt zu werden, Und danach richtete er sich. Irgendwie hat es Katharina erreicht, dass sie an den Wochenenden in den Wald gehen durfte. Vielleicht war sie, angespornt oder inspiriert von dem Erleben mit Georg, fleißiger, zugänglicher für ihre Herrin geworden.  Oder hat sie etwas geahnt? Und beide Augen zugedrückt? Wohl nicht.

Und Georg hat sich immer wieder was ausgedacht, um ihr eine Freude zu machen oder ihr zu zeigen, was ihn selbst bewegte. Bei den Büchern, die Georg zu Hause gehortet hat, waren auch Bilderbücher, Witz­bücher mit Zeichnungen. Die brachte er mit und sie schauen sich das mit­ein­­ander an. Das war für Katharina auch wie eine Schule, denn manche Bücher oder Hefte ließ er dort und die Texte unter den Bildern halfen nicht nur zu verstehen. So hat sie daraus im Lauf der Zeit ganze Sätze bilden können. Die Sachen traute sie sich nicht mit ins Haus zu nehmen. Entwe­der steckten sie es in ihren Briefkasten oder in eine Müllbox im Gärtchen. Dass da auch Feuchtigkeit und Mäuse dran nagten, machte nichts aus.


Einmal hätten sie sich fast verraten. Für die Körperpflege bekam Katharina nichts, kaum ein­mal ein Stück Seife. Georgs Mutter hatte ja auch nicht viel. Er brachte ihr ein Stück Kern­seife mit. Und das fand die Herrin bei ihr. Peinliche Verhöre standen an. Georg hatte die Seife in einer Seifenschale mitgebracht. Die haben sie aber in ihrem Nest liegen lassen. Katharina beteuerte, die Seife gefunden zu haben. Man glaubte ihr nicht. Sie holte die Schale aus dem Wald. Dort habe sie es gefunden, sagte sie. Nun glaubte sie ihr. Weil sie so strähniges Haar hatte, hat Georg ihr Shampoo mitgebracht.  Da war Katharina drauf gefasst und hat dazu Seifenkraut und Kamilleblüten ins heiße Wasser getan. Und angedeutet, dass sie das von zuhause weiß. Aber Georg hat es ihr gesagt.  Das war eine Pracht, als sie ihrem Georg entge­genflog mit einem Wolkenschleier aus Gold, Licht und Duft.

Sie trafen sich nur noch selten an der kleinen Bank seit sie es sich droben am Krötensee so wohnlich gemacht haben. Da war man vor Überraschungen sicher, da konnten Leute zwei Meter daneben vorbei gehen durchs Dickicht, ohne sie zu sehen. Da saßen sie und sprachen mit wenigen Worten und Gesten, lagen nebeneinander, er hat den rechten Arm um sie geschlun­gen, sein Gesicht ihren Haaren zugewandt, streichelt mit dem Mund das ovale Muttermal am schmalen, zarten Hals, dann  kitzelt er  mit der Zunge an ihrem Öhrchen. Sie hält still und lächelt, ein seliges Lächeln, das alles ringsum vergessen lässt, die ferne Heimat, das Dasein mit schwerer Arbeit, die Frau und ihre Tiere. Und Katharina dreht sich aus seinem Arm über ihn, nimmt sein Haupt in beide Hände und küsst ihn auf den Mund. So nah waren sie sich noch nie gekommen im ersten Jahr. Und Georg streichel­te ihren Rücken, spürte ein Begehen in sich, ihr Kleid war hochgerutscht und seine Hand berührte zart ihren Oberschenkel. Sie hatten die Augen ge­schlos­sen, waren zu einer Einheit geworden. War diese schöne, junge Frau dabei sein Eigen zu werden? Eine Welle des Glücks und der Erwartung überfiel ihn – sein Tasten und streicheln wurde fordernder, gleich wie sich die Spannung in seinen Lenden steigerte und der Kuss über die Wange glitt. Da löste Katharine ihre Arme und schob die rechte Hand gegen seine Brust. Er schaute auf, ganz nah – Tränen, was war das, Angst, nein, das konnte doch nicht sein. Noch lange lagen sie beieinander, es war alles wie vorher, dann gingen sie ins Gärtchen, saßen noch beieinander und versuchten, das, was ihnen vorhin geschehen war, zu begreifen und zu verste­hen. Katharina wusste mehr als Georg über die Folgen, die ihre Bezie­hung haben konnte, war in einem fremden Land gefangen, war nur einem Impuls gefolgt, als sie daran dachte, wollte ihn nicht wegstoßen, sie liebte ihn doch. Und dann musste sie wieder zurück an ihre Arbeit.

Dann kam die Zeit, als Georg, der als Arbeiterbub es sich nicht leisten konnte, auf eine höhere Schule zu gehen, sich für einen Beruf entscheiden musste. Auf Vorschlag seines Lehrers ging er zur Fortbildung ins Internat.  Er konnte immer seltener mit Katharina beisammen sein und jedes Mal wurde es schwerer, sich voneinander zu trennen. Im August 1944 forderte der deut­sche Souverän von ihm, nun ganz für den Staat verfügbar zu sein. Als er zur Grundausbildung musste, war nur wenig Zeit. Sie trafen sich noch einmal. Georg erklärte den Befehl.  Sie lagen sich lange in den Armen und ihre Tränen flossen und vereinigten sich zu einem stillen Protest und tiefer Trauer und Angst um den andern. Und die Gedanken flogen voraus in die nächste Zukunft.  Ob Georg in das Land ihrer Väter marschieren würde, ob er von der Kugel ihres Bru­ders getötet würde, ob sie sich vielleicht nie wiedersehen würden.

Im April 1945 kam Georg zurück. Nachdem er seine Familie gefunden hatte, suchte er nach Katharina dort draußen am Wald. Sie war nicht mehr da. Er suchte in dem alten Baumstumpf nach einer Nachricht, einem Zeichen.  Es war gerodet. Georg hat in seinem Leben nicht oft geweint.  An dem Tag weinte er bitterlich und saß lange auf der Bank im Garten und dachte an seine Katharina. Er wusste jetzt erst, wie sehr er dieses liebe Mädchen ins Herz geschlossen hat, dass es mehr war als eine Freundschaft   Das Lager am Krötensee aber hat er zerstört. Es war ihre Liebeslaube gewesen. Das sollte niemand mehr haben. Seine Trauer hätte nur gemil­dert werden können, wenn er hätte erfahren können, ob sie es geschafft hat, wieder in ihre Heimat zurück zu finden. Bank und Krötensee gibt es noch. Und jedes Mal, wenn Georg dort vorbeigeht, wird das alles wieder lebendig, Katharina, eine Liebe und eine schwere, men­schen­­feindliche Zeit. Georg hat darüber nur Trost gefunden im Wissen, dass er für die kleine Katharina für eine Zeit, in der sie einen Menschen brauchte, Freund, Heimat und Da­heim gewesen war.

 

Eine Erzählung von Helmut Försch